Von Kunstkojen und Bildboxen


Die große Kunstausstellung des Kunstvereins Ratingen im Nassauer Stall


„Hier wäre ich auch gerne Pferd gewesen“, sagte eine Besucherin, als sie den „Nassauer Stall“, einen historischen Gebäudeteil von Schloss Wickrath in Mönchengladbach-Wickrath, mit staunenden Augen betrat, wo am Wochenende, dem 19./20. Juli 2025, die große Sammelausstellung „Summer Art“ des Kunstvereins Ratingen e. V. stattfand. Ursprünglich dienten die zwei großen, hallenartigen, lichtdurchfluteten Räume mit Reliefs und ästhetischer Architektur als Pferdestall (Marstall) für die Hengste des einst wichtigsten deutschen staatlichen Landgestüts. Tatsächlich sieht man heute erst auf den zweiten Blick, dass hier einmal stolze Pferde ihre Heimat fanden.

Dreizehn Künstlerinnen und Künstler des Vereins konnten in den eindrucksvollen Hallen deshalb so großzügig ihre Werke präsentieren, da jedem und jeder zwischen zwei Säulen eine breite, ehemalige Pferdekoje mit Tischen und Stellwänden zur Verfügung gestellt wurde, die natürlich jeweils individuell gestaltet werden konnte – wie kleine Ausstellungen in der großen Ausstellung. Das haben alle nach eigenem Geschmack unterschiedlich genutzt, und so ist ein sehr buntes und spannendes Gesamtbild entstanden, ähnlich einer Kunstmesse.

Zwei Künstlerinnen haben tatsächlich ihre Präsentationsbox zu einem künstlerischen Pferdestall verwandelt. Tina Carstens, von Hause aus studierte Grafikdesignerin, hat speziell für die Ausstellung Bilder und Objekte mit Pferdemotiven geschaffen. Sie verarbeitet Schablonen von Pferdeköpfen zu Gemälden, die vor allem durch die Kombination der halb abstrakten, zum Teil in kräftigeren Farben ausgearbeiteten Tiere und den oft fast monochromen, zarten Hintergründen eine besondere Spannung erzeugen. Eine besonders kreative Idee war ihr Objekt „Horse in a Circle“ – ein gemalter Pferdekopf auf einer runden Scheibe, unter der eine Leiter steht. Vor der Leiter liegen auf dem Boden gefilzte Pferdeäpfel – alles ein Symbol für das Oben und Unten.
Mit einem Augenzwinkern betrachtet, regt dieses Objekt zum Nachdenken an – wirklich spannend!

Völlig anders Ursula Stüwe-Schmitz, die seit Jahren die Pferde- und Tiermalerei zu ihrem künstlerischen Lebensthema gemacht hat. In perfekten, fotorealistischen Ölbildern schafft sie es, das geliebte Tier eines Pferdebesitzers so darzustellen, dass dieser darin zu hundert Prozent seine Stute, seinen Hengst, sein Fohlen wiedererkennt. Das gelingt ihr vor allem durch die sensible, präzise Darstellung der jeweils einmaligen, individuellen Augen, in denen sich – so Stüwe-Schmitz – die Seele jedes einzelnen Pferdes am besten zeigt. Dies zu treffen, bedarf einer hohen, nicht nur malerischen Kunst. Natürlich hat sie als Pferdeliebhaberin es auch nicht versäumt, den „richtigen“ Pferdestall zu besuchen, wo an dem Wochenende auch Veranstaltungen mit „echten“ Pferden stattfanden.

Petra Baierl im nächsten Raum bezeichnet sich als Suchende, die jeden Ast, jeden Stein und kleine Teile aus jedem Material sammelt, die sie nach einem intensiven inneren Prozess in unzähligen Kombinationen zu einem künstlerischen Objekt werden lässt. So ergeben sich immer wieder neue Bedeutungen ihrer ausdrucksstarken, ästhetischen, plastischen Werke. Hierbei fällt auf, dass oft Menschen – zum Beispiel in Umarmung – eine besondere Rolle zu spielen scheinen. Jedes neu entstandene Werk koppelt sie mit einer eigenen Geschichte und ist immer wieder überrascht, welche unterschiedlichen Interpretationen jeder Betrachtende für sich entwickelt. Als ehemalige Lehrerin spielt Kunst für sie seit jeher eine ganz besondere Rolle, und sie wird auch weiterhin Suchende bleiben: Die Anzahl der Dinge, die ihren Augen und Sinnen begegnen, ist schier unendlich.

In einer weiteren Pferdebox präsentierte Carla Cramer-Behrendt, ein langjähriges Mitglied des Vereins, neben ihren perfekt gearbeiteten Objekten mit Computerbausteinen ihre zum Teil neuen, großformatigen, kubistisch anmutenden Werke. Vor allem die Bilder „Gala“, ein großes Querformat mit reduzierten Farben, unterschiedlichen Perspektiven und kubistisch-eckig gezeichneten Menschen, machen in diesem großartigen Werk den vornehmen Abend der Bohème lebendig. Ebenso die drei nackten Frauen im Hochformat „Wellness“, das fast monochrom die Bewegungen der Badenden aufzunehmen scheint. In ihrem großen neuesten Werk „Dream“ sieht man einen Frauenkopf mit schwarzem Haar und geschlossenen Augen, von dem aus sich in alle Richtungen Träume ihren Weg suchen. Was der Traum bedeutet, ist ein Geheimnis – man kann sich höchstens seinen eigenen Traum daraus machen.

Gegenüber in dieser ersten Halle schließlich: Gaby Herrmann, eine weitgereiste Künstlerin, die sechs Jahre mit ihrem Mann in Thailand gelebt und dort eine Farbigkeit der Natur erlebt hat, die sie als den Aufbruch in die Welt ihres kreativen Schaffens bezeichnet. Viele Eindrücke hat sie malerisch umgesetzt und ihre Möglichkeiten durch ihr Studium an der Kunstakademie zu Berlin vertieft. Bis heute schwingen diese Farben in ihr – und natürlich entsprechend in ihren Werken – nach; dunkle, braune oder schwarze Töne sucht man vergebens. Hier präsentiert sie auch ältere Zeichnungen, zum Beispiel von Obst, die durch ihre präzise Ausarbeitung bestechen.

Für Hannelore Kicken ist Kunst „gelebte Phantasie, die sich verselbstständigt“, wenn sie Dinge entdeckt, die sie dann – handwerklich perfekt – zu Bildkompositionen zusammenfügt. Jahrelang ist sie als Fotografin um die Welt gereist, hat tausende Fotos gemacht, immer mit dem Wunsch, selbst einmal Motive auf die Leinwand zu bringen. Inzwischen hat sie unter anderem ein Studium an der Freien Akademie für Malerei in Düsseldorf absolviert und malt mit unterschiedlichsten Techniken. In der aktuellen Ausstellung präsentiert sie die Kombination von Bild- und Schriftcollagen in einer reduzierten Farbgebung. So sieht man zum Beispiel einen Frauenkopf mit dunkler Sonnenbrille, bei dem nur rote Lippen den farblichen Akzent liefern. Solche Bilder mit Schriften und etwa Tieren stellt sie zu Serien zusammen.

Schließlich Norbert Thomann, auch erst seit relativ kurzer Zeit im Verein. Er präsentiert neben seiner Serie mit Kaktusbildern als einziger Künstler eine Klanginstallation mit der Bezeichnung „Regenmacher“ – zum einen in Form eines mit Spachtel bearbeiteten Mittelformats, das durch ineinandergreifende Wellen besticht, zum anderen in Gestalt eines länglichen Klanginstruments, mit dem die Aborigines ihren Gott um Regen baten. Bewegt und dreht Thomann das Instrument, hört man unterschiedlich laute Regengeräusche, die man von „echtem“ Regen nicht unterscheiden kann. Wenn man sich auf das Klangerlebnis einlässt, scheinen sich die Wellen des Gemäldes in Bewegung zu setzen, und beides – das Instrument und das Bild – bieten in ihrer Kombination eine ganz besondere Sinneserfahrung.

Einen völlig anderen Weg gehen das Ehepaar Jutta und Werner Köhler. Sie sind seit Jahren Fotokünstler aus Leidenschaft, denen es in ihren hochprofessionellen Arbeiten immer wieder gelingt, den kleinsten Moment einzufangen, ihm eine neue Form zu geben und mit jeder „Ablichtung“ ein neues Licht zu generieren. Seitdem sich der ehemals als Club Ratinger Maler organisierte Zusammenschluss in einen Kunstverein gewandelt hat, sind sie dabei und bereichern mit ihren ausdrucksstarken fotografischen Werken den Verein. Besonders spannend ist ihre Serie „Spiegelungen“, bei der das feste Objekt sich zum Beispiel in spiegelnde Wellen verwandelt und so eine völlig neue Welt in der Kombination von fester Materie und sich auflösenden Spiegelbildern entsteht. Ebenso verarbeiten sie Fotos zu farbigen, abstrakten Bildkompositionen, bei denen viele Betrachter fragten, ob das wirklich Fotografie sei oder doch ein Acrylbild – abfotografiert.

Martina Neumayer, mit Künstlernamen MarLo, ist zum ersten Mal bei einer Ausstellung des Kunstvereins Ratingen dabei. In ihrer Kunstkoje erwartet einen eine unglaubliche Farbenpracht abstrakter Werke, die jeweils eine eigene Geschichte zu erzählen scheinen. MarLo hat ein ungebrochenes Verhältnis zu Farben, deren Mischung, neu entstehenden Farbtönen oder Verläufen sie oftmals selbst überrascht. So entstehen außerordentliche abstrakte Gemälde von enormer Intensität und Vielfalt, oft auch mit halbabstrakten Elementen, wie zum Beispiel auf dem Bild, auf dem sie die Farbverläufe zu einem großen Herzen formen lässt. Wieder ein gutes Beispiel dafür, dass sich kreative, abstrakte oder surreale Momente nur durch die Lösung vom Realen in den Flow der Möglichkeiten erzeugen lassen.

Ähnlich geht es auch Beate Döring, die diesen Prozess kreativen Schaffens mit unterschiedlichsten Materialien wie Sand oder Marmormehl in Gemälden oder Objekten umsetzt. Sie experimentiert, bis ihr schließlich ein Bild gefällt, oder fügt weitere Farben beziehungsweise Materialien hinzu. Sie lässt sich treiben und weiß nie, wohin die kreative Reise geht und welcher Werkstoff das Werk noch bereichern oder individualisieren soll. Das Ergebnis wird nie geplant. Durch den plötzlichen Tod ihres Mannes hat sie zur Kunst gefunden – als heilende Kraft der Bewältigung. Dies zeigt einmal mehr die Bandbreite der Motivation für die Kunst als stützenden Wegbegleiter durch eine oft schwere Zeit.

Marieluise Vogt-Meyer ist eine der wenigen Künstlerinnen der Ausstellung, die einfach die „Freude am Malen“ als wichtige Substanz beschreibt. Diese Freude, gepaart mit Pinsel- und Stiftkompetenz, ist eine hohe Form des Glücks, die kreatives Schaffen den Menschen bietet. Bei ihr hat sich dieser lange Schaffensprozess inzwischen in vier inhaltlichen Bereichen herauskristallisiert: Raum und Architektur, Arbeitswelt und Tierwelten. Das Bild, neben dem wir Vogt-Meyer sehen, ist hierfür ein wunderschönes Beispiel. Hier gelingt es ihr durch perfekte Anwendung der bildlichen Perspektive der Rotunde, eine Tiefe in das Bild zu zaubern, die einen förmlich hineinzieht in den Raum, um sich dann von dem leuchtenden Rot verzaubern zu lassen.

Christine Hein spielt bei dieser Ausstellung eine ganz besondere Rolle: Sie ist die einzige Künstlerin, die bei ihren Werken nur mit einer Farbe arbeitet, dem Blau. Diese Farbe ihrer Werke entsteht durch die Cyanotypie. Diese alte fotografische Technik des blauen (Cyan-)Drucks (Typie) wird als „Lichtbildkunst“ bezeichnet. Halbtransparente oder transparente Gegenstände, Folien oder Negative werden auf das bestrichene Papier gelegt und mit UV-Licht bestrahlt (siehe Blogbeitrag). Das Spannende hierbei ist, wie viele faszinierende Bilder, Formen, halbabstrakte oder reale Bilder sie mit nur einer Farbe schaffen kann. Die Bilder können immer nur so groß sein, wie es die Fotowanne zulässt, aber durch die Kombination einzelner Bilder gelingt es ihr, fantastische Werke von intensiver blauer Strahlkraft zu entwickeln. Viele Besucher blieben neugierig staunend vor der blauen Bilder-Box stehen und interessierten sich für den ihnen bislang unbekannten Schaffensprozess.

Michael Troesser, seit über 20 Jahren dabei, widmet sich auch hier seinen beiden zentralen kreativen Bereichen: dem Wort und dem Bild. Zum einen setzt er zum Teil humorvolle Wortspiele als Gemälde um, so wird die „Uhutube“ zur „Ehetube“ oder der Leuchtturm zur Leuchtgiraffe. Zum anderen entstehen kurze poetische Texte, die Tiefgründiges mit Leichtem verbinden. Sein besonders intensiver Moment war, als ein kleines Mädchen das Bild eines Affen vom Vater geschenkt bekam und strahlte. Sie hat den Affen „Mia“ getauft, will ihn in ihr Zimmer hängen, und immer, wenn sie traurig ist, sollen diese Augen sie trösten. Auch hier zeigt sich erneut, welche zwischenmenschliche Kraft die Kunst haben kann.

Das Wichtigste kommt zum Schluss, nämlich diejenige Künstlerin, der wir diese Ausstellung verdanken und der es durch professionelle Organisation gelang, einen reibungslosen Ablauf der oft etwas schwierigen Künstlerinnen und Künstler zu ermöglichen: Pauline Kugler. Sie ist die zweite Vorsitzende des Vereins und hatte sich schon lange vorgenommen, eine derart große Sommerausstellung im Nassauer Stall zu realisieren. Ohne ihre Energie, Kraft und perfekte Planung wäre diese Ausstellung nicht möglich gewesen. Dafür danken wir ihr von Herzen und zollen ihr hohen Respekt! Natürlich ist sie auch Künstlerin und präsentierte hier ihre phantastischen Objekte, bei denen sie realen Dingen wie Schuhspannern oder Büstenhaltern eine farbige, surreale Seele einhaucht. Dass sie Künstlerin ist und ihre schaffenden Hände nicht stillhalten können, zeigt eine nette Episode: Trotz vieler Aufgaben saß sie in ihrer Kunstkoje und feilte seelenruhig und verträumt an einem kleinen Stein, formte daraus ein menschliches Öhrchen, aus dem ein Büchlein erwächst. Was kann das sein? Ein Hörbuch. Wunderbar.

Circa 150 Besucherinnen und Besucher an den beiden Tagen entsprachen zwar nicht ganz den Erwartungen, dennoch verbuchten alle Ausstellenden dieses Kojenevent im Schlossstall als ein Erlebnis mit unzähligen schönen Momenten in außergewöhnlich großzügigen Hallen. Viele Kontakte, Begegnungen, Gespräche und Eindrücke klangen noch lange nach. Beseelt und müde ging man nach Hause und dachte einmal mehr: Trotz all des Aufwands hat es sich gelohnt – Kunst als eine besondere Form der Freiheit und des Glücks.

© Text/Bilder Michael Troesser 2025