Alice im Wunderland der Kunst

Es war der „Harry Potter“ des 19. Jahrhunderts: „Alice im Wunderland“, Lewis Carrolls surreal versponnenes Märchen, war bereits im Erscheinungsjahr 1865 ein Bestseller.

Es ist schon komisch: Jeder kennt dieses Buch, zumindest eine der zahlreichen Filmadaptionen (jüngst in 3D von Tim Burton). Doch die Geschichte lieben? Nein, das tun die wenigsten. Zu unheimlich, ja grausam sind die Fabelwesen, denen Alice „underground“ begegnet, nachdem sie dem sprechenden weißen Kaninchen in seinen Bau folgt. Genau 150 Jahre ist es her, dass der Mathematik-Dozent und Amateurfotograf Charles Lutwidge Dodgson, der später unter dem Pseudonym Lewis Caroll Weltruhm erlangte, sie zum ersten Mal erzählte. Es war bei einer Bootsfahrt mit Edith, Lorina und der zehnjährigen Alice, den drei Töchtern seines Freundes Henry Liddell. Alice wurde die Titelheldin seiner Geschichte und sie war es auch, die ihn bat, die Erzählung aufzuschreiben. 1865 wurde „Alice in Wonderland“ veröffentlicht. Ein Kinderbuch ist es dennoch nicht. Die Grinsekatze, der verrückte Hutmacher, die Herzkönigin, die liebend gern jemandem den Kopf abhacken lassen will – all diese Gestalten gehören zu einem absurd-bedrohlichen Figurenrepertoire, das in den Tiefen des Unbewussten verankert ist. Es geht um Parallelwelten, um Bewusstseinserweiterung und Grenzüberschreitungen. Es geht um die Verschiebung von Zeit und Raum, von Maßstäben und Perspektiven. Vor allem geht es um Selbsterkenntnis. „Wer bist du?“, fragt die rauchende Raupe Alice. Eine Frage, mit denen sich Philosophen, Psychoanalytiker und Künstler aller Couleur immer wieder befasst haben. Sicher hätte schon die Auseinandersetzung der Surrealisten mit dem literarischen Werk mehr als genug Stoff geboten, doch in diesem Streifzug durch die Kunstgeschichte, der übrigens schon in England und Italien zu sehen war, ist den Surrealisten nur ein kleines Kapitel gewidmet.·                                 

Die ersten Illustrationen lieferte der britische Zeichner John Tenniel – und die wiederum förderten enorm die Vermarktung der Geschichte. Ein ganzer Raum ist den Nippes-Artikeln jener Zeit gewidmet, Teekannen, Spielkarten, Dosen, Holzfiguren, die zeigen, wie erfolgreiches Merchandising im 19. Jahrhundert lief.

Unter den bildenden Künstlern waren dann die Surrealisten diejenigen, die sich als erstes intensiv mit der fantastischen Erzählung befassten. Für sie war Alice eine Symbolgestalt des Surrealismus und ihr Schöpfer ein künstlerischer Vorläufer und Seelenverwandter. Salvador Dali, René Magritte, Leonor Fini, Richard Oelze und vor allem Max Ernst waren fasziniert von den Traumgestalten, die sich jeder Rationalität und Logik entzogen. Highlights im Reigen der surrealen Werke ist das verstörende Bild „Alice in 1941“ von Max Ernst aus dem New York Museum for Modern Art, sowie der animierte Kurzfilm „Destino“, den Salvador Dali und Walt Disney 1945 begannen und den Dominique Monféry 2003 vollendete.

Alice war immer präsent, im Theater, im Film, in der Pop-Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre. Der Zuschauer begleitet die Frau auf einer abstrakten Traumreise zwischen Disney-typischer Zeichentrick-Ästhetik und den surrealen Kreationen Dalis, die man aus den Werken des spanischen Surrealisten kennt. Ein einmaliger, kurzer Experimentalfilm, der aber lange nachhallt. Ich selbst bin auf Destino erst über Umwege aufmerksam geworden, nämlich in Form einer nicht minder faszinierenden Alternativversion auf Youtube.

Anmerkungen:

  1. Auszug aus dem „Kultur-Magazin aus Hamburg / KULTUR PORT DE
  2. Text:
    Isabelle Hofmann und Carla Cramer-Behrendt